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June 4, 2020
BILBoard – Mai 2020: Die Konjunktur erholt sich – aber es gibt noch keinen Grund zum Jubeln
Es sieht ganz so aus, als ob wir den Tiefpunkt des Wirtschaftseinbruchs überstanden haben und die schwerste Rezession seit den 1930er Jahren im Mai zu Ende geht. Wir können die Weltwirtschaft aber nicht einfach zum Stillstand bringen, sie dann wieder hochfahren und davon ausgehen, dass alles wieder seinen normalen Gang geht, wie nach einer kurzen Werbepause. Anders als es der kräftige Kursanstieg an den Aktienmärkten vermuten lässt, wird sich die Erholung ohne flächendeckende Impfungen als langwierig erweisen. Wir halten es für realistischer, im zweiten und dritten Quartal dieses Jahres mit einer Stabilisierung und ab dem vierten Quartal mit einer allmählichen Erholung zu rechnen. Die finanziellen Verluste aufgrund der Krise werden wahrscheinlich nicht vor Ende 2021 wieder aufgeholt sein.
Es gibt jedoch
zahlreiche veränderliche Einflussfaktoren und unser Basisszenario ist mit einem
hohen Grad an Unsicherheit behaftet. Da die Einschränkungen des öffentlichen
Lebens nun schrittweise wieder aufgehoben werden, besteht das größte Risiko in
einer zweiten Infektionswelle. Das wäre wie ein Schritt nach vorn und drei
zurück. Andere Risiken sind überwiegend verhaltensbezogen: Werden die
Verbraucher wieder mehr Geld ausgeben und werden die Investitionen im
Unternehmensbereich wieder zunehmen?
Angesichts der
schwerwiegendsten wirtschaftlichen Verwerfungen aller Zeiten ist das schwierig
vorherzusagen. Ganze Länder mussten erleben, wie ihre wirtschaftlichen
Aktivposten zu einer Bürde wurden – seien es die florierenden
Tourismusbranchen oder die Landwirtschaft, wo das Obst an den Bäumen verdarb,
weil die Arbeitskräfte fehlten, um es zu pflücken. Der Rettungsanker war die
beispiellose fiskal- und geldpolitische Unterstützung.
Dass die
Zentralbanken in Reaktion auf die Krise mit vollen Händen Geld verteilen,
bedeutet, dass sie für einen Großteil der Geschäftswelt zu Kreditgebern letzter
Instanz geworden sind. Die US-Notenbank (Fed) senkte die Zinsen auf nahezu null
und verpflichtete sich vorbehaltlos zum Kauf von US-Staatsanleihen. Erstmals in
ihrer Geschichte begann sie darüber hinaus mit dem Kauf von
Unternehmensanleihen – zunächst in Form von ETFs, wobei in „naher Zukunft“
auch Einzeltitel erworben werden sollen. In Europa hat die EZB
750 Milliarden Euro für den Kauf von Staats- und Unternehmensanleihen
(darunter auch risikoreicheren Titeln) bereitgestellt und verschiedene neue
Instrumente zur Liquiditätssicherung eingeführt.
Bislang wurden in
den USA fiskalpolitische Konjunkturmaßnahmen im Umfang von 3 Billionen
US-Dollar ergriffen. Marktbeobachter und auch US-Notenbankchef Powell äußerten,
dass weitere Maßnahmen erforderlich seien, um die Wirtschaft wieder
anzukurbeln. In Europa atmete man erleichtert auf, nachdem Macron und Merkel
sich auf ein 500 Milliarden Euro schweres Rettungspaket geeinigt hatten,
das auf Beihilfen anstatt auf Kredite setzt und damit einen echten Schritt auf
dem Weg zu gemeinsamen fiskalpolitischen Maßnahmen darstellt.
Wie aus den
Einkaufsmanagerindizes und Unternehmensbefragungen hervorgeht, scheinen
Konsum-, Anleger- und Geschäftsklima mit einem solchen Sicherheitsnetz wieder
an Dynamik zu gewinnen. Die Stimmung kann jedoch schnell umschlagen, daher
neigen wir vorerst zu einer vorsichtigen globalen Vermögensallokation mit einer
neutralen Haltung gegenüber Aktien.
Anleihen
Wir haben
Staatsanleihen untergewichtet, halten aber weiterhin einen gewissen Bestand als
Puffer gegen das Aktienrisiko. Der Anstieg der US-Zinskurve ist steiler geworden, denn die Anleger stellen
sich auf eine verstärkte Emissionstätigkeit ein, die besonders das längere Ende
der Kurve betreffen dürfte. Angesichts der Pandemie und der Unterstützung durch
die Kaufprogramme der Zentralbank korrigierte das US-Finanzministerium seine
Schätzung der Neuemissionen (netto) für das zweite Quartal um sage und schreibe
3,055 Billionen US-Dollar nach oben. Das Finanzministerium rechnet damit,
im dritten Quartal, also von Juli bis September, Kredite im Wert von
677 Milliarden US-Dollar aufzunehmen. In Europa wird die aktuelle
Beanstandung des Anleihekaufprogramms der EZB (mit Ausnahme der
Nothilfeprogramme infolge der Pandemie) durch das Bundesverfassungsgericht zum
aktuellen Zeitpunkt wohl keine grundlegende Veränderung bewirken, d. h.
die EZB ist weiterhin in der Lage, die Zinsen zu deckeln.
Wir haben in
Profilen mit niedrigem, mittlerem und hohem Risiko einen Teil unserer
Anlagen in Staatsanleihen verkauft und dafür Gold ins Portfolio
aufgenommen, um eine zusätzliche Diversifizierung und eine alternative
Absicherungsmöglichkeit zu schaffen. Unser Engagement im Währungsbereich war
nicht abgesichert, daher erhöhten sich unsere Positionen in US-Dollar.
In Profilen
mit geringem oder ohne Aktienanteil bleiben wir bei einer Übergewichtung von
Investment-Grade-Anleihen. Die Spreads zeigten im Laufe des vergangenen Monats ungewöhnlich wenig
Bewegung und befinden sich immer noch auf einem historisch hohen Niveau, denn
Anleger wägen attraktive Bewertungen gegen unsichere Konjunkturaussichten ab,
und es gibt eine ganze Reihe sogenannter „fallen angels“: Nach Schätzungen von
S&P laufen Anleihen im Wert von fast 400 Milliarden US-Dollar Gefahr,
von Investment Grade auf High Yield herabgestuft zu werden. Ein
Silberstreif am Horizont waren die Ankündigung der Fed, Titel von kürzlich
herabgestuften Unternehmen zu kaufen, und die Bereitschaft der EZB, solche
Anleihen als Sicherheit zu akzeptieren. Damit wurde eine Auffangmatte für die „fallen
angels“ bereitgestellt.
Wir sind
jedenfalls im Hochzinssegment immer noch untergewichtet.In
Europa legt die Bewertung der Spreads eine Ausfallquote von 7 % für
nächstes Jahr nahe, was den während der Krise von 2008 verzeichneten Zahlen
entspräche. Schwellenländeranleihen werden im aktuellen Umfeld ebenfalls
als zu riskant eingestuft.
Aktien: Krise?
Welche Krise?
Von der Trägheit,
die eine V-förmige Erholung der Volkswirtschaften verhindert, ist an den
Aktienmärkten nichts zu spüren. Dort sind die Kurse wieder auf das Niveau vor
Ausbruch der Pandemie geklettert. In Ermangelung von Unternehmensprognosen
gehen die Analysten jedoch lieber auf Nummer sicher und wir beobachten weitere
Herabstufungen der Gewinnerwartungen für 2020 (seit Jahresbeginn rund
-30 %). Da die Kurse nach oben streben, während die Gewinne nach unten
tendieren, sind Aktien mit Blick auf die Kurs-Gewinn-Verhältnisse nun so teuer
wie seit 2002 nicht mehr.
Angesichts dieser
Entkoppelung wäre der Mann auf dem Cover des Supertramp-Albums „Crisis? What
Crisis?“ von 1975 ein gutes Sinnbild der Aktienmärkte. Er liegt ganz entspannt
unter einem Sonnenschirm und ignoriert das Chaos um ihn herum, während es
regnet und Schornsteine in der Ferne umweltschädlichen Rauch in den grauen
Himmel blasen. Die Aktienmärkte steigen, obwohl wir die schlechtesten
makroökonomischen Daten seit Jahrzehnten verzeichnen und die künftige
Entwicklung unsicher ist. Offenbar schauen die Aktionäre mit einem Tunnelblick
über die aktuelle Lage hinweg in eine blühende Zukunft nach der Pandemie. Die
Gewinnerwartungen für 2021 liegen 5 % über den 2019 erzielten Ergebnissen,
d. h. man geht davon aus, dass die Unternehmen nächstes Jahr nicht nur die
2020 erlittenen Verluste wieder aufholen, sondern sich hervorragend entwickeln
und noch besser abschneiden. Dieser unbegründete Optimismus veranlasst uns
dazu, vorerst an einer neutralen Positionierung im Aktiensegment festzuhalten.
Wir bleiben auch auf Sektorebene neutral
positioniert, denn in den einzelnen Sektoren gibt es große Diskrepanzen
zwischen Gewinnern und Verlierern. Darüber hinaus könnten die Gewinner von
heute nach der Aufhebung der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ins Straucheln
geraten: Sobald die Erholung richtig in Fahrt kommt, werden unserer Ansicht
nach zyklische Werte (Finanztitel sowie Industrie-, Energie- und
Grundstoffwerte) an Beliebtheit gewinnen, doch an diesem Punkt sind wir noch
nicht angelangt. Vorerst setzen wir bevorzugt auf Wachstums- und
Qualitätsunternehmen mit hoher Marktkapitalisierung, die meist im
Digitalisierungsbereich tätig sind. Auch dies trägt zu unserer Übergewichtung
von US-Titeln gegenüber europäischen Titeln bei, denn in Europa gibt es einfach
keine den FAANG (Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google) ebenbürtigen
Unternehmen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass wir langsam Licht am Ende des Tunnels sehen, uns aber nicht in falscher Sicherheit wiegen sollten. Die von COVID-19 verursachten wirtschaftlichen Schäden sind real und gravierend, und die Erholung wird auf Versuch und Irrtum beruhen. Und um noch einmal auf Supertramp zurückzukommen: Es gilt jetzt, vernünftig, logisch, verantwortungsvoll und pragmatisch vorzugehen. Wir überprüfen täglich unser Basisszenario und werden entsprechend reagieren, falls sich die Lage anders als derzeit erwartet entwickeln sollte.
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