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October 3, 2019

BILBoard September 2019 – Steht die Weltwirtschaft vor einem „Tipping Point“?

Mit seinem Buch „Tipping Point: Wie
kleine Dinge Großes bewirken können“ prägte Malcolm Gladwell auch für die
deutsche Wirtschaftswelt den Begriff „Tipping Point“. „Tipping Point“ lässt sich am
besten mit „Kipppunkt“ übersetzen und beschreibt einen Punkt oder Moment, an
dem eine vorher geradlinige und eindeutige Entwicklung durch bestimmte
Rückkopplungen abrupt abbricht, die Richtung wechselt oder stark beschleunigt
wird. Vor genau solch einem Kipppunkt scheint die Weltwirtschaft aktuell zu
stehen: Wird sie eine Talsohle ausbilden, wodurch sie sich selbstständig wieder
erholen kann, oder wird sie sich weiter eintrüben, wodurch fiskalpolitische
Maßnahmen unerlässlich werden? In den nächsten Monaten wird sich entscheiden,
wie die weitere Entwicklung der Wirtschaft einzuschätzen ist. Denn mit der
Veröffentlichung weiterer Daten dürften sich die Hinweise verdichten, in welche
Richtung die Entwicklung verlaufen wird.

Allerdings könnten bereits ein paar
vereinzelte unerfreuliche Daten oder ein feindseliger Tweet das Zünglein an der
Waage bilden, das den Ausschlag nach unten bewirkt. In solch einer Situation
kann Vertrauen – sowohl seitens der Unternehmer als auch seitens der Verbraucher
– zur Gefahr werden, und Gefühle, wie Gladwell in seinem Buch schreibt, können
ansteckend wirken.

In unserem Basisszenario gehen wir
derzeit davon aus, dass wir uns nicht in einer Rezession, sondern in
einer Konjunkturverlangsamung befinden, d. h. in einer Phase , in der
Risikoanlagen in der Regel hohe Renditen erzielen. Vereinzelt bestehen noch
starke Segmente, insbesondere in den USA, wo die Konsensschätzungen von einem soliden
Wachstum von 2,3 % im Jahr 2019 ausgehen, angetrieben vor allem durch den
Konsum der privaten Haushalte (der Hand in Hand geht mit einer extrem niedrigen
Arbeitslosenquote). Auch wenn die Lage in den USA derzeit stabil ist, ist keine
Wirtschaft immun gegen äußere Einflüsse. Die globale Konjunkturverlangsamung
und die Ungewissheit in Bezug auf den Welthandel haben das Wachstum im Bereich
der Industrieproduktion nahezu zum Stillstand gebracht. Gleichzeitig wurden bei
US-Unternehmen die Investitionsausgaben zurückgefahren.

In Europa ist die Situation etwas
angespannter. Die Konsensschätzung geht für 2019 von einem Wachstum von
1,1 % aus, doch ist der Fertigungssektor des Kontinents in Schieflage
geraten, was auch auf den Dienstleistungssektor überzugreifen droht. Folglich
besteht ein erhebliches Abwärtsrisiko. Im zusammengesetzten
Einkaufsmanagerindex des Monats September kommen diese Befürchtungen bereits
zum Ausdruck: Der Index fiel auf 50,4 Punkte und bewegt sich damit
gefährlich nahe an der 50 Punkte-Marke, die als die Trennlinie zwischen
Kontraktion und Expansion gilt. Die Komponente „Produktion“ ist mit
45,6 Punkten bereits unter die Schwelle abgesunken, und die Komponente
„Dienstleistungen“ verharrt bei immerhin 52 Punkten (Rückgang von 53 
im August). Die Länder Südeuropas befinden sich derzeit in einer besseren
Verfassung als Deutschland, das stark von seinen Exporten und dem globalen
Konjunkturzyklus abhängig ist. Es wird sich zeigen, ob die übrigen Länder der
Eurozone wie Deutschland in eine Abwärtsspirale abrutschen, oder ob der
Kontinent das Kunststück schafft, sich wieder zu stabilisieren.

Die Zentralbanken unternehmen
unterdessen ihr Möglichstes, und es herrscht immer noch Liquidität an den
Märkten, wodurch für Risikoanlagen derzeit noch immer ein gewisser Puffer
besteht. Auf ihrer September-Sitzung hielt die EZB eine ganze Reihe von
erfreulichen Nachrichten für die Märkte bereit: Es gibt eine Neuauflegung der
quantitativen Lockerung (vorerst unbefristet mit einem Volumen von
20. Mrd. Euro monatlich ab November), bessere TLTRO-Bedingungen (was
bedingte Kredite an Banken attraktiver werden lässt), ein System gestaffelter
Zinsen für Einlagen (bei dem ein Teil der Bankeinlagen – derzeit das
Sechsfache ihrer Mindestreserven – von den Strafzinsen ausgenommen ist)
und eine Senkung des Einlagensatzes auf -0,5 %. Die Fed schloss sich
dieser Maßnahme mit einer bereits zu großen Teilen erwarteten Zinssenkung um
0,25 % auf eine Spanne von 1,75–2,00 % an.

Doch die Märkte können nicht von
Liquidität allein leben. Da bedarf es schon eher eines Durchbruchs im
Handelsstreit, einer Stabilisierung der Einkaufsmanagerindizes für das
verarbeitende Gewerbe oder aber deutliche Anzeichen, dass die Regierungen
bereit sind, steuerliche Anreize zu schaffen.

Unserer Ansicht nach haben die
Märkte immer noch etwas Bewegungsspielraum, doch angesichts der bestehenden
Risiken müssen wir uns auch darauf einstellen, dass uns eine beschwerliche Zeit
bevorsteht. Die politischen Risiken könnten jederzeit ohne Vorwarnung wieder
aufflammen, insbesondere die geopolitischen Risiken im Nahen Osten. Zudem endet
am 31. Oktober die Frist für den Brexit, dessen Ausgang weiterhin ungewiss
ist, und die USA wollen bis zum 13. November entscheiden, ob sie nun
europäische Autos mit Importzöllen in Höhe von bis zu 25 % belegen wollen
oder nicht.

Aktienmärkte

Aus der Angst heraus, eine durch
Liquidität angetriebene Rally zu verpassen, sind einige Anleger weiterhin stark
engagiert, doch letztendlich erhalten die Aktienmärkte eher durch die Gewinne Antrieb.
Angesichts der anstehenden Berichtssaison für das 3. Quartal bedeuten die
Abwärtskorrekturen, dass die bestehenden Erwartungen leicht zu erfüllen sind.
Die Erwartungen für 2019 könnten sich sogar als zu pessimistisch
herausstellen – die Konsenserwartungen für das Gewinnwachstum liegen für
die USA bei -1 %, für Europa bei +0,8 % und für die Schwellenländer
bei -6,7 %. Während die Zahlen für 2019 recht deutlich nach unten
korrigiert wurden, blieben die Erwartungen für 2020 nahezu unverändert, und damit
diese Zahlen tatsächlich erreicht werden, bedarf es einer deutlichen
Verbesserung des makroökonomischen Umfelds oder eines Durchbruchs im
Handelskonflikt.

Im vergangenen Monat, als für uns
noch nicht genug Klarheit in Bezug auf die Absichten der Zentralbanken bestand
und im Handelskonflikt zwischen den USA und China noch starke Spannungen
herrschten, haben wir einige Portfolios, für die dies zulässig ist, mit
Put-Optionen ausgestattet, um bei Bedarf einen Teil unseres europäischen und
US-amerikanischen Aktienexposures zu einem vorher vereinbarten Preis verkaufen
zu können. Wir ließen diese Optionen verfallen und nahmen an den zugrunde
liegenden Positionen keine Änderungen vor. Im Falle der Portfolios, für die ein
Kauf von Derivaten nicht zulässig ist, hatten wir das zugrunde liegende
Aktienexposure bereits veräußert und wir kauften es nun zurück (wie in der
Matrix dargestellt).

Auf Sektorebene haben wir alle
unsere sektorbezogenen Positionen glattgestellt. Im September war es zu einer
heftigen Stilrotation gekommen, bei der zyklische Werte und Value-Aktien
(hauptsächlich Finanzwerte) eine Outperformance gegenüber Growth-Aktien und
defensiven Werten erzielten. Diese Rotation scheint eher durch die
Zinssenkungen als durch die Entwicklungen im makroökonomischen Umfeld ausgelöst
worden zu sein. Die wichtigste Frage ist jedoch, ob der von der Anlegerstimmung
angetriebene Trend anhalten wird. Auf lange Sicht dürften die Fundamentaldaten
zwar dominieren, doch können sich die Anleger als sehr launisch zeigen. Daher ziehen
wir es vor, uns nicht so kurzsichtig zu positionieren.

Unsere Allokation in
festverzinslichen Anlagen beließen wir in diesem Monat unverändert, mit
Ausnahme des Verkaufs unserer Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit, mit dem wir
unsere oben genannten Aktienkäufe finanzierten.

Mit Blick auf die weitere Konjunkturentwicklung ist es noch zu früh, eine Vorhersage zu treffen, in welche Richtung die Waagschale kippen wird. Möglicherweise wird sich der Himmel über der Weltwirtschaft wieder aufklaren. Doch sollte die Waage tatsächlich in die andere Richtung kippen und ein Sturm aufziehen, werden die Regierungen unter Umständen gezwungen sein, ihre Konjunkturpakete aufzuschnüren, die sie sich für schwierige Zeiten aufgehoben hatten. Solange an den Märkten nicht mehr Klarheit in Bezug auf das zukünftige Wachstum besteht, ist es daher sinnvoll, keine unnötigen Risiken einzugehen und eine leichte Untergewichtung in Risikoanlagen aufzuweisen.

Einschätzung: Gibt an, ob wir die Anlageklasse positiv, neutral oder mit Skepsis beurteilen
Änderung: Gibt an, wie sich unser Engagement seit der Sitzung des Ausschusses für Vermögensaufteilung im Vormonat verändert hat


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